10 November 2010

Novemberlieder mit Former Ghosts, Zola Jesus und Xiu Xiu, 9.11.2010, Festsaal Kreuzberg

In Berlin hat sei gefühlten zwei Wochen die Sonne nicht mehr geschienen und langsam fängt der graue Herbst an, mir aufs Gemüt zu schlagen. Was könnte da besser sein, als die Stimmung mit ein Konzert von FORMER GHOSTS, ZOLA JESUS und XIU XIU weiter zu drücken. Erheiternde Musik hört sich anders an...

FORMER GHOSTS ist ja eigentlich eine One-Band-Band von Freddy Ruppert, wird aber durch die Mitarbeit von Jamie Stewart und Zola Jesus ein bisschen wie die Supergroup des Indi-Morbiden gehandelt. Dementsprechend düster und klaustrophob geht es bei FORMER GHOSTS zu und die ständigen Vergleiche zu Joy Division sind gut nachzuvollziehen. Bei FORMER GHOSTS kommt aber auch eine queere Komponente dazu und auch wenn es wie ein Klischee klingt: Schwule Männer haben offensichtlich einen weiter entwickelten Sinn für Style und Dramatik. Denn bei FORMER GHOSTS klingt trotz aller Zerbrechlickeit und autistischen Ausstrahlung des Freddy Ruppert immer auch das gewisse Opernhafte durch. Und das passt gut zu den klaustrophoben Beats und der minimalen Casioelektronik.

Dagegen klangen bei ZOLA JESUS die Beats, als ob man unter einer Eisenbahnbrücke steht und grade ein Güterzug rüberrollt. Ihre Klänge sind vor allem industriell und lärmig, die Songs apokalyptisch und ihr Gesang voller Dramatik. Ihr Auftritt beim Berlinfestival ging in der frühabendlichen Atmosphäre feierwütiger Festivalbesucher weitestgehend unter, aber hier und heute entfaltet ihr klischeefreier Düstersound seine volle Wirkung. ZOLA JESUS ist die Gothrock-Version von Kate Bush oder die Fever Ray ohne den ganzen konzeptionellen Ballast.

Bei XIU XIU weiß man ja nie so richtig, ob sie es banal oder brutal meinen. Ihre Texte sind tieftraurig und oft mit Sarkasmen gespickt. Das Video zu „Dear God I Hate Myself“ zeigt Sänger Jamie Stewart wie er genüsslich Schokolade vertilgt, während sich Bandpartnerin Angela Seo den Finger in den Hals steckt und unter Schmerzen übergibt. Musikalisch changieren XIU XIU von bittersüßen Akustiksongs über lupenreinen Pop zu dröhnender Kakophonie bis zu Kinderzuimmer-Spielzeug-Trashsound. In dieser Band sind musikalisch so viele Aspekte zu finden, dass es schwer fällt sie zu beschreiben, aber genau diese Zerrissenheit ist das Geheimnis ihres Zaubers. XIU XIU’s Musik ist ein fein ausbalanciertes Gebilde aus Pop und Noise, der den Zuhörer hin und her wirft, der Spannungen aufbaut und wieder verwirft. Jamie Stewart ist einer der größten, aber unterbewertesten Crooner der Indiewelt, der die Zuhörer mit seelenstrippender Ehrlichkeit genauso wie mit kakophonischer Abschreckung unterhält und am Ende genauso zerrissen stehen lässt, wie er selbst ist.

17 Oktober 2010

Let Me Entertain You: Future Islands + Amplitude + Kid Ikarus @ Schokoladen, 16.Oktober 2010

In weiser Vorahnung habe ich mich sehr früh auf den Konzertweg gemacht und tatsächlich: Als ich zum Schokoladen kam, stand die Schlange schon bis zur nächsten Straßenecke. Angesichts des gegenwärtigen Hypes um die Future Islands war der Andrang zu erwarten und die Supportbands Amplitude und Kid Ikarus steigern den Hipness-Faktor noch um ein Vielfaches. Aber Dank des wohnzimmergroßen Bühnenbereichs im Schokoladen bedeutete das aber auch ein kuschliges Konzerterlebnis mit schwitzenden Körper ohne sozialen Sicherheitsabstand um mich herum. Da war ich froh, dass ich die Future Islands schon am Vortag in Potsdam ohne lästige Drängelei erleben konnte.

Kid Ikarus
durfte den Abend eröffnen und dieser kleine Spacke mit seiner selbstironischen Inszenierung als Szenelooser ohne Glamourfaktor passte genau in den Abend und in diesen Laden. Von der Musik müssen wir nicht sprechen, denn die war ungemein schlecht, unbedarft und simpel, aber Kid Ikarus’ Verkörperung der Widersprüchlichkeiten der berliner Ausgehgesellschaft ist ungemein unterhaltsam. Einerseits cooler Szenetyp mit Auskennersprech, andrerseits geschmackloser Haar- und Klamottenstil und unfähig die eigenen Instrumente zu bedienen. Arm aber sexy würde der Regierende Bürgermeister dazu sagen.

Kid Ikarus ist ja auch zu einem Viertel Amplitude. Das hat dann den Effekt, dass, kaum hat man sich von der Bar zurück in den Konzertraum gekämpft, da eine andere Band auf der Bühne steht. Und uns mit einer weiteren berliner Realität konfrontierte: Die vierte Amplitude fehlte, weil er am Vorabend in seiner Arbeitsstelle Spätverkauf überfallen wurde und nun im Krankenhaus liegt. Dieser Umstand schien kein Grund zur Trauer zu sein und Amplitudes Kindergeburtstags-Nintendo-Electro war so niedlich und fluffig und mit Tendenz zum Trash, dass man fast auf die Idee kam, auch nach den Gesundheits- oder Geisteszustand der verbliebenden Drei zu fragen. Stellt euch einfach Dan Deacon multipliziert drei (oder vier) vor. Oder guckt euch das Video zu "Das Gute Alte Gedöns" an und ihr wißt Bescheid.



Ein hoher Unterhaltungsmaßstab war also gesetzt als die Future Islands anfingen. Und unterhaltsam waren sie auch, aber auf eine völlig andere Art. Future Islands sind ja so was wie die Gossenversion von The Knife, mit einem Meat Loaf als Sänger, der aber absolut angepisst zu sein scheint, weil er in einer Gossenversion von The Knife spielen muss, anstatt bei Rock am Ring. Ist böser gesagt als gemeint. Sänger Sam scheint wirklich nett und sympathisch zu sein, aber seine Gesten, seine Theatralik und seine Stimmmodulation erinnert allzu oft an den Fleischklops plus anständigem Sauertopf. Diese unheimliche Ausstrahlung plus die ganz unbombastigen Synthieklänge plus New-Order-Bassgitarren machten die Show zu einem intensiv-düsteren Erlebnis. Und damit, trotz der Drängelei und Schwitzerei im übervollen Schokoladen-Wohnzimmer, mal wieder zu einem einzigartig Konzerterlebnis.

04 Oktober 2010

Kommando Sonne-Nmilch: The shape of Punk should be

Gestern wurde ich Zeuge des wohl besten Konzertes des Jahres 2010. Die Band Kommando Sonne-Nmilch um den Sänger Jens Rachut hat bewiesen, dass man auch mit 50+ noch weiß, wie Punk geht. Kein anderer Punksänger dieser Republik verkörpert the shape of Punk should be wie er. Ohne Pathos, ohne Modescheiß, ohne Diskurs, ohne Retrokonservatismus, sondern echtes Leben, echte Wut und auch echte Zärtlichkeit. Ohne Jens Rachut abfeiern zu wollen (auch weil er sich gegen das Starsystem der Musikindustrie mit aller Macht stemmt): Der Mann ist eine Legende und von seinen unzähligen Bands der letzten 25 Jahre, waren insbesondere Angeschissen und Blumen am Arsch der Hölle für mich das wohl prägendste Punkerlebnis meiner Adoleszenz. Rachut ist der große Grantler des Deutschpunks. Eine Mischung aus Mark E. Smith, Axel Prahl und Punkrock. Rachuts Texte sind skurille Alltagsbeobachtungen voller Zynismus. Zustandsbeschreibungen seiner depressiven Seele genauso wie Kampfansage gegen die normative Spießigkeit und das Richtige Leben im Falschen. Und dazu kann man auch noch pogen.
Rachut ist mittlerweile 53 Jahre alt, aber die emotionale Intensität seines Liveauftritts lässt sein Alter vergessen. Und Rachut ist dabei die uncoolste Persönlichkeit des Abends. Sein Stylebewußtsein liegt auf Hartz 4 Niveau. Er trägt Shorts von KIK, weiße Slipper und ein schlabberiges Hemd mit unsagbar schlechten Wildkatzenaufdruck. Was bei anderen Leuten ein modischen Statement wäre, ist bei Rachut einfach nur normal. Oder höchstens der Ausdruck für den Beschiss, den das Leben bereit hält...

Kommando Sonne-Nmilch – Faltenaffen

Wenn es Nacht wird und du schläfst, und dir fehlt ein Traum
Wenn es Herbst ist in deinem Leben
Wenn die Faltenäffchen kommen und dein Sack wird grau
Depressionen kommen und gehen

Wenn du leicht vergrätzt über Jugend hetzt und dein Kater wird zum Tiger
Deine Sätze, die du sprichst mit Frühjahranfang, wird es Zeit dir zu erklären

Da hilft kein Heulen, da hilft keine Creme
Man muss den Affen das Futter stehlen

Ist dein Körper welk, wie ein totes Krokodil
Deine Freundin sucht das Weite.
Sie hälts nicht aus, weil du am Jaulen bist
Und die Affen sind am Falten

Brillenträgerschlange
Faltenarschmatrose
Vergesslichkeitskaiser
Thrombosenkrebskollekte
Zukunftsangstbesitzer

Da hilft kein Schreien, da hilft keine Creme
Man muss der Scheiße ins Auge sehen

Frierst du immer mehr, sind deine Füsse kalt
Ruft der Tod dir ins Gewissen
Will er plötzlich, dass du eher kommen sollst

Lach doch mal!

28 September 2010

Martin Büsser gestorben

Tief erschüttert musste ich die Nachricht vom Krebstod Martin Büssers vernehmen. Martins Musikgeschmack und seine Gedanke dazu, seine Texte und Bücher waren für mich seit fast 20 Jahre eine Quelle der Inspiration...

24 August 2010

29 Juli 2010

Wir sind die Nattern...

Die aktuelle Ausgabe des Kulturspiegels macht mit einem Interview mit Daniel und Angela Richter auf. Daniel Richter, der seine Karriere als Zeichner für das Cover des ersten Angeschissen-Album begann und dessen Bilder jetzt sechsstellig verkauft werden, ist längst im Hochkulturbetrieb angekommen und gestaltet in dieser Saison Szenenbilder für die Salzburger Festspiele. Seine Frau Angela ist ebendort als Regisseurin tätig.
Daniel Richter hat sich immer explizit zu seinem linksautonomen Hintergrund bekannt und nutzt, trotz seiner vielfältigen Verbindungen zur kommerziellen Kunstwelt, seine Medienpräsenz zur Kritik am Waren- und Marketingfetisch der Kunst. Zuletzt im Rahmen der Besetzung des Hamburger Gängeviertels. Naheliegend, dass der Kulturspiegel diesen Widerspruch zwischen linkem Selbstverständnis und Hochkulturpopanz aufnimmt. Angela Richters Replik dazu: "Vielleicht sind wir ja die Nattern, die sich an deren Busen nähren"

27 Juli 2010

Recommended Listening (Pt. 1)

Kein Sommer der Liebe

Greie Gut Fraktion „Baustelle“
anbb „Red Marut Handshake“

Wie kommt es eigentlich, dass nach jahrelangen intensiven Konsum an Musik und dem gegenwärtigen Überangebot dergleichen, es immer wieder Platten gibt, die hängen bleiben und einen Eindruck hinterlassen? Welchen Softspot sprechen diese Platten an, auf das man anfängt sich mit dieser Musik auseinanderzusetzen, in repeat zu hören und den Referenzkasten zu durchwühlen?
Es sind zwei Platten aus Berlin, die im diesjährigen Sommer für mich heraus scheinen. Keine Sommerplatten für den Baggerseekurzurlaub oder zum Warmes-Bier-Im-Park trinken, sondern Platten die spröde, sperrig, substantiell, kunstvoll, ambitioniert und schwierig sind. Platten, die dorthin gehen wo es weh tut, die Aufarbeitungen provozieren und Universen aufeinanderprallen lassen. Und sich auf eine Weise ähneln, die kein Zufall sein kann. Sind sie doch einmalige Kollaborationen von sich gegenseitig schätzenden Künstler/innen, die ihre verschiedenen Erfahrungen aus Ost/West und Achtziger/Neunziger/Tausender-Jahre miteinbringen.
Die Greie Gut Fraktion besteht aus den Antye Greie und Gudrun Gut. Gudrun Gut hat in den letzten dreißig Jahren die Berliner Undergroundmusik geprägt wie keine andere Frau dieser Stadt: Neubauten, Malaria, Monika Enterprises und Ocean Club. Antye Greie hat mit der Band Laub knarzende Pop-Elektronik mit sperriger Kunstlyrik verbunden und war beim seeligen Kitty Yo-Label zuständig für den Link zum Diskurs zur Kunstakademien. Beide zusammen haben jetzt als Greie Gut Fraktion die Platte "Baustelle" veröffentlicht, auf dem sie Fieldrecordings von, nun ja, Baustellen benutzen, elektronisch aufarbeiten und mit manchmal mehr, manchmal weniger holprigen Beats unterlegen. Was klingt erstmal wie pures Gähnen, ist aber höchst ambitioniert und mehr als gelungen. So verwebt sich der Klang von Betonmischern, Bohrhämmern, Akkuschraubern und Kettensägen kunstvoll zu dub-ambient-elektronischen Soundcollagen voll kühler Athmospähre die gleichzeitig Zerstörung und Aufbau atmet. In "Cutting Trees" hört man das Surren einer Motorsäge, während ein Stimme im Hintergrund haucht "cutting trees give space", der Palais-Schaumburg-Klassiker "Wir bauen ein Stadt" wird zum urbanen Baustellen-Dub mit allerlei Maschinengeräuschen und "Mischmaschine" recycelt das Geräusch eines Betonmischers zum Beat eines Dubstep-Ungetüms.

Zum Duo anbb haben sich Alva Noto aka Carsten Nicolai und Blixa Bargeld zusammengefunden. Carsten Nicolai hat sich in den letzten Jahren einen Namen als technokratischer Künstler und Musiker gemacht, der seine Werke fast bis zur Unkenntlichkeit reduziert. Blixa Bargeld ist als Sänger der Einstürzenden Neubauten fast schon ein Kulturdenkmal. Zwar hat er in den letzten Jahren wenig aufregendes produziert, doch ist sein Stimme und lyrisch-romantische Kraft immer noch ein hell strahlender Stern am Himmel. Mit anbb treffen beide Ansätze perfekt aufeinander. Da ist die kalt-minimalistische Elektronik samt auftretender Störgeräusche des Carsten Nicolai, die sich an der schrill-markanten Stimme des Blixa Bargeld reibt, die in diesem Umfeld wiederum selbst zum Maschinegeräusch mutiert, ein Konzept, das schon die Neubauten in ihrer Anfangszeit, freilich mit analogen Mitteln, perfektionierten. Beide Ansatzpunkte zusammengefasst finden eine perfekte Mischung und so entstand mit "Red Marut Handshake" ein Platte, die wie feindliche Wetterzonen zu einem düsteres Gewitter aufeinanderprallen und sich in schillernden Farben entlädt.

13 Juli 2010

Tuli Kupferberg gestorben

Tuli Kupferberg, Bohemian, Beatnik, Anti-Kriegs-Aktivist, Maler, situationistischer Aktionist, Sänger der Proto-Punk-Band The Fugs ist gestorben.
"Our goal was to make the revolution. That would have been a complete revolution, not just an economic or political one. We had utopian ideals and those are the best ideals. What happened was that this movement that flourished then had a lot of problems. "
Den Song "CIA Man" dürften alle kennen die den Film "Burn After Reading" gesehen haben...

09 Juli 2010

immer wieder schön (Teil 1)

Teenage Fanclub, 1991 - The Concept


Tocotronic, 1995 - Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk


Element Of Crime, 1991 - Mach das Licht aus wenn du gehst


Blumfeld, 1992 - Von der Unmöglichkeit Nein zu sagen

Das sinnloseste Gebäude der Stadt

Gestern feierte Politik und geladene Gäste das Richtfest für das wohl sinnloseste Gebäude der Stadt: die sogenannte Humboldt-Box. Von hier soll man, wenn es mal fertig ist, einen schönen Rundblick über die bekannteste Brachfläche der Stadt haben und sich über die zukünftige Bebauung und Nutzung dieser Brachfläche informieren können. Natürlich gegen Eintritt. Diese Brachfläche ist pittoresk eingerahmt von Spree, Dom und der temporären Kunsthalle und ein Witzbold hat ein überdimensionales Herz in der akkurat geschnitten Rasen getreten. An dieser Stelle stand einmal der Palast der Republik, lange davor das Königsschloss der Hohenzollern. Nun gibt es einige Berliner und beruflich Zugezogene die dieses Schloß wieder haben wollen, am liebsten mitsamt der untergegangenen barocken Fassadenpracht. Nur das Geld fehlt. Vor drei Jahren hat Bund und Senat schon mal 550 Millionen zugesagt um das Schloß wiederaufzubauen, doch diese Summe ist mittlerweile dem Sparprogramm der Bundesregierung zum Opfer gefallen bzw. wie es offiziell heißt verschoben auf 2013. Wir alle aber wissen, dass dies das Aus für das Schloß bedeutet. Wohl dosiert und auf Raten.
Aber noch schöner ist die Tatsache, das die Firma Megaposter, Initiator der Humboldt-Box und verantwortlich für die, tja, Megaposter an den Baugerüsten dieser Stadt, nun nicht mehr weiß wie der Bau finanziert werden soll. Ohne Schloß keine Werbung an Bauzaun und Baugerüst und auch kein Baustellenblick. Ohne Werbung und Baustellenblick keine Einnahmen für die Humboldt-Box. Am Ende bleibt dann wohl eine Investruine als grandioses Monument des Scheiterns.

08 Juli 2010

Fritz Teufel gestorben

"Nach meiner Weltanschauung ist feines Benehmen einerseits Zärtlichkeit, das gilt aber vielleicht nur unter Leuten die Widerstand leisten, weil es einfach notwendig ist. Wer sich anpasst, kann einfach nicht zärtlich sein, dass ist meine Erfahrung. Die andere Geschichte ist aber die, das feines Benehmen im Widerstand notwendig, unkonventionell und kriminell ist..."

06 Juli 2010

M.I.A.- Born Free

Romain Gavras, Sohn des Filmregisseurs Constantin Costa-Gavras, hatte schon vor zwei Jahre für Aufmerksamkeit gesorgt, als er im Videoclip zum Justice-Song Stress Jugendliche in einer französischen Vorstadt wahllos auf alles eintreten lies was ihnen in den Weg kommt. Die Medienaufmerksamkeit war groß und viele hielten das Video schlicht für eine Marketing-Provokotion.
Jetzt hat Gavras für die neue M.I.A.-Single "Born Free" eine Videoclip gedreht, indem US-Soldaten rothaarige Jugendliche verhaften und in sadistischer Art über ein Minenfeld jagen. Das Video ist vor allem abstoßend und shocking und damit genauso provokativ, aber auf eine sehr merkwürdige Art auch lustig. Viel stärker als beim Justice-Clip kommt hier, wenn auch in klischeehafter Art, ein Subtext durch. Die Szenerie erinnert stark an Irak oder Plästina (nur das es dort keine Rothaarigen gibt) und die wahllosen Gewalt der Soldaten beschwört das Klischee von skrupellosen Söldner. Aber dann gibt es in diesem Filmclip auch wieder merkwürdig ironische Momente. Zum Beispiel, als der eben verhaftete rothaarige Teenagerjunge in den Gefangenentransporter gestoßen wird erinnert das eher an eine Simpsons-Szene, die im Schulbus spielt. Und dann tragen fast alle Rothaarigen Nylon-Tracksuits und die Soldaten sehen auch eher aus wie fettleibige, donut-gemästete Polizisten. Welche Intention hatte Gavras also? Politisches Statement? Provokation? Medien-Aufmerksamkeit? M.I.A. selbst sagte dazu, der Clip sei als Kritik an der Anti-Terror-Politik der USA zu verstehen und sie selbst ist bekannt dafür, mit ihrer Symphatie für die tamilische Guerilla offen umzugehen. Aber smart wie M.I.A. ist müsste sie auch wissen, das in der Popkultur selbst die ernstgemeinteste Rebellion immer zur Karikatur wird.

M.I.A, Born Free from ROMAIN-GAVRAS on Vimeo.

02 Juli 2010

Wooden Shjips, Eagle Boston, Moon Duo - Festsaal Kreuzberg, 1.Juli 2010

Taking drugs to make music to take drugs to...
Als jemand der seine Teenagerjahre in der ostdeutschen Provinz zugebracht hat, habe ich eine gesunde Abscheu gegen Langhaarhippies und deren Vorliebe für Sechzigerjahre-Musik entwickelt. Dieses komplizierte Verhältnis hat sich erst entspannt, als ich die Spacemen 3 entdeckte und über diese Band sehr schnell zu Velvet Underground, Stooges und 13 Floor Elevators fand. Erstaunt stellte ich fest, dass es damals nicht nur lulligen Love&Peace-Brei gab, sondern Musik die wirklich gefährlich war.
Die Wooden Shjips aus San Francisco erinnern mich genau an diese Phase. Ihr ästhetischer Anspruch ist tief in den Sechzigern verwurzelt und sie verarbeiten Elemente der Jefferson Airplane und 13 Floor Elevators genauso wie Garagenkrach der Sonics und Stooges, nehmen aber auch Anleihen von Suicide und Spacemen 3. Die Musik der Wooden Shjips ist minimalistisch-repetetiv und lässt kein Klischee des Psychedelic Rock aus, weder die mäandernde Orgel, noch wabbernde Fuzzgitarren, noch die LSD-induzierten Backgroundvisuals. Böse Zungen sagen: Kennst du einen Song, kennst du alle. Stimmt. Aber während andere Bands versuchen, die Gunst des Publikums über wilde Bühnenaktion oder schrille Verkleidung zu gewinnen, spielen die Wooden Shijips stoisch ihre endlos langen Songs mit den immer gleichen schleifenden Bassläufen, pluckernde Drumpatterns und tief-halligen Gesang. Viel zu sagen haben die Herren sowieso nicht und Scheiße sehen sie auch noch aus. Also schließt das Publikum die Augen und geht trotzdem ab. Is this what mind-blowing means?
Vorbands an diesem Abend im Festsaal waren Eagle Boston und Moon Duo. Eagle Bosten haben sich ebenfalls der psychedelischen Musik gewidmet, erweitern dies aber ansprechend durch Artschoolpunk-Anleihen. Der niedliche Gesang der Sängerin passte aber nun gar nicht dazu und wirkte sehr deplaziert. Moon Duo waren irgendwie auch ein Witz. Man stelle sich die Wooden Shijps als verkleinertes Ensemble vor (ist ja auch das Nebenprojekt des WS-Gitarristen) nur das die fehlenden Musiker durch Beatbox und Sampler ersetzt werden.
Was noch auffiel: Das Rauchverbot in Clubs bedeutet auch, keine bewusstseinserweiternden Substanzen über Inhalationsverfahren einnehmen zu können. Irgendwie schade an diesem Abend....

30 Juni 2010

Riot sounds produce riots, Atari Teenage Riot, Fusion-Festival


Das Fusion-Festival ist bekannt dafür, dass die Hauptacts unangekündigt bleiben. Das hat den Vorteil, dass Namedropping-Spacken draußen bleiben und den Nachteil, dass man als Musikfan die besten Sachen verpasst. Am Donnerstagabend gab es als Überraschungsact und nach zehnjähriger Live-Abstinenz Atari Teenage Riot auf der Hangarbühne. Nach Augenzeugenberichten war die Reaktion des Publikums der pure Wahnsinn.... Frittenbude und Egotronic können einpacken.

30 April 2010

Ovo, Nadja, Thrones - Festsaal Kreuzberg, 29.04.2010

Bekanntermaßen ist Dronemusic aufgrund der seiner bedeutungsschweren Eintönigkeit nur schwer zu genießen (man erinnere sich an Earth-Song „Gold And Faceted“, der es in 30 Minuten Spielzeit auf genau einen Akkordwechsel bringt). Aber dennoch gibt es wohl keinen anderen Stil aus der unüberschaubaren Anzahl der Subgenres von Punk und Metal, welcher sowohl beim puristischen Fan als auch im intellektuellen Kunstbetrieb für soviel Diskussion sorgt. Die Szene ist zwar klein, die Wirkung aber enorm. So richtig verstanden habe ich die Aufgeregtheit um Dronemusic nie, vielleicht auch weil mir hier zuviel Ernsthaftigkeit drin steckt und ich an einer entwickelten ADS leide (leide?), die es mir schwer macht, die notwendige Konzentration für 60minütiges Gitarrenbrummen aufzubringen.

Das extensive Gitarrenbrummen hat aber einen anderen Vorteil: Man kann diese ganzen Soundfetischisten endlich einen Vogel zeigen, wenn diese mir wieder erzählen wollen, das der Klang technisch gesehen scheiße ist. Ganz einfach weil sich nicht abschließend klären lässt, ob der brummende, subfrequente Gitarrensound der Unfähigkeit des Soundmannes oder dem künstlerischen Wollen des Gitarristen zuzuschreiben ist. Diese Formen künstlerische Wollen gab es im Festsaal Kreuzberg in drei verschieden Ausprägungen zu begutachten: Ovo, Nadja und Thrones.

Da Bedeutungsschwere und Drone zusammen gehören wie die Faust aufs Auge, musste man sich auch an diesem Abend entsprechend theatralisch einschwingen: Die Djane fuhr den Sound zurück, das Licht wurde gedimmt und eine Person läuft barfuss durch den Saal und kündigt mit zarten Glockenklang das Konzert an. Das hat ein bisschen was von Teeruf-Ritualen japanischer Geishas, aber in Wirklichkeit ist die Person ein 100 Kilo schwerer Typ in schwarzen Rock und Wrestlingmaske, den man Minuten später auf der Bühne als (Stand)-Schlagzeuger der Band Ovo sieht. Der zweite Teil der Band, eine Gitarristin im eleganten schwarzen Schlitzkleid und zerrissenen Netzstrümpfen, steht breitbeiniger auf der Bühne als Courtney Love, trägt ebenfalls eine Maske, bei der man aber nicht genau erkennen kann, ob diese nun den Teufel oder ein Playboybunny darstellen soll. Und sie fällt insbesondere mit ihrem Gesang auf, der zwischen guttural und hysterisch-kreischend alterniert. Musikalisch ist der brummende, sludgige Basssound von Ovo nicht besonders auffallend, aber mit ihrem ästhetischen Konzept fügen sie der unspaßigen Ernsthaftigkeit der Droneszene eine notwendige Portion Selbstironie und Gendercrossing zu.

Von Gendercrossing sind die kanadischen Nadja weit entfernt, aber möglicherweise ist die Aufarbeitung von Geschlechterfragen bei einer Musikrichtung, die sich aus dem Doom und Black Metal entwickelt hat, dann doch zuviel verlangt. Wie bei Ovo wird auch bei Nadja als gemischtes Duo agiert, doch sind hier die Rollen traditionell verteilt: Der Mann spielt Gitarren und manipuliert allerlei technische Gerätschaften und die Frau zupft entrückt den Bass und steht dabei mit dem Rücken zum Publikum (das wäre dann wohl der theatralische Aspekt). Musikalisch aber sind Nadja allen anderen Bands dieses Genres meilenweit voraus und ihre Mischung aus Gitarrendröhnen, Bassbrummen und elektronischem Ambientnoise der ins trancehaft-ätherische hinüberreicht ein absolutes Fingerlecken. Songstrukturen sind hier komplett aufgelöst, es gibt nur noch Soundtexturen und Schichten aus übersteuerten, verzerrten und halligen Gitarren, angereichert mit allerlei Klang- und Noiseschnipsel. Nadja konstruieren klangliche Momentaufnahmen, die scheinbar ins unendliche ausgedehnt werden und deren Wirkung und Dichte mit jeder Sekunde gesteigert wird. Die psychedelische Wirkung auf einen toleranten Zuhörer kann enorm sein und ich war froh eine entspannte Position auf der Festsaal-Couch einnehmen zu können, um Nadjas Musik als offensives Hintergrundrauschen auf mich einwirken zu lassen. Es hat funktioniert.

Nach soviel Spektakel hatte es Thrones naturgemäß schwer. Auch wenn hinter diesem Projekt der Name Joe Preston steht, der nicht nur am wohl besten Melvins-Album „Lysol“ mitgearbeitet hat, sondern auch in anderen Formationen die Welt mit viel abstrakten Noise beschenkte und somit einer der Paten des aktuellen Doomdronehypes ist. Seine Songs waren gut und intensiv, vor allem sehr rhythmisch, aber nach dem nadjaschen Wall Of Dronesound fast schon artig und vorhersehbar. So ergab ich mich meiner schon oben erwähnten ADS und begab mich auf den Heimweg, den Kopf immer noch schwirrend von Sound und Drone.

ÖPNV-Erkennnisse No. 1

Das neue, großartige PG.LOST-Album "In Never Out" reicht punktgenau vom S-Bahnhof Babelsberg bis zum Kottbuser Tor inkl. zweimal Umsteigen. Die mitgeführte Flasche Bier war schon an der Möckernbrücke alle...

PG Lost

28 April 2010

DSDS vs Led Zep vs Blümchen: Pest, Pocken oder Cholera?

Letztes Jahr zu Weihnachten haben einige frustrierte englische Musikfans eine Facebook-Kampagne losgetreten und Castingshowhasser weltweit aufgefordert, Rage Against Machines „Killing In the Name of Love“ innerhalb einer Woche massenhaft downzuloaden. Ziel war es, dem englischen X-Faktor-Sieger, dessen Namen man mittlerweile auch schon wieder vergessen hat, die sicher geglaubte und prestigeträchtige Weihnachts-Nummer 1 in den Verkaufscharts streitig zu machen. Die Kampagne hat damals wunderbar funktioniert, Rage Against The Machine spendete alle Download-Tantiemen und der X-Faktor-Sieger hatte das Nachsehen, wurde dann aber zum Trost eine Woche später zur Nummer 1.
Tolle Idee dachten sich ein parr deutsche Stadionrocker und starteten gleichfalls eine Facebook-Kampagne, um den aktuellen DSDS-Sieger, dessen Name ich auch nicht kenne, die Nummer 1 in den deutschen Verkaufscharts streitig zu machen. Abgesehen davon, dass die Methode zur Ermittlung der Verkaufsplatzierung mindestens fragwürdig ist, erscheint der Kandidat der Stadionrocker als echter Witz. Ist es aber nicht. Ausgerechnet Led Zeppelins „Stairway To Heaven“ wird ins Rennen geschickt. Ein Lied, welches selbst eingefleischten Liebhabern ehrlicher Rockmusik zum Halse raushängen dürfte, auch wenn sie damit intime Erlebnisse ihrer Jugendzeit verbinden. Mal abgesehen davon, das die andere Hälfte der downloadaffinen Musikfreunde die Band nicht mal mehr kennen dürften bzw. schlichtweg egal ist.
Doch gerechterweise hat sich für diese Zielgruppe noch eine andere Alternative formiert und schickt Blümchens Kirmestechnokracher „Boomerang“ als Alternativkandidaten ins Rennen. Ich gebe zu: Auch wenn Blümchen ihre ersten Karriere als konstruiertes Castingprodukt begann und die Songs absoluter Müll sind, hat ihre jugendliche Gutgelauntheit auch bei mir sabbernd-symphatisierend Eindruck hinterlassen und ich erkenne ihr Spätwerk mit Bernd Begemann als durchaus ernstzunehmen an. Trotzdem frage ich entgeistert: Was ist schlimmer? Pest, Cholera oder Pocken?

27 April 2010

Ratz & Rübe: Arbeiten müssen

Ich habe neulich drüber nachgedacht, welche TV-Serien mich als Kind geprägt haben und ob meine Entwicklung anders verlaufen wäre, wenn ich mit Teletubbies und Spongebog groß geworden wäre. Dem Zeitgeist entsprechend waren, als ich klein war, reformpädagogische Kindersendungen angesagt: Sesamstraße und Rappelkiste. Sendungen voller moralischen Eifer, die den Kindern Gedanken an Widerspruch, Gleichheit und Solidarität näher bringen sollten. Die Eltern hassten diese Sendungen, weil dort kleine Kinder öffentlich die Zunge raussteckten und die angesprochenen Themen wegen des kindlichen Nachahmungsdrang die Kids zur sozialistischen Revolution führen würden.
Und wenn ich mich recht erinnere, fand ich die Rappelkiste immer anstrengend, weil, im Gegensatz zur Sesamstraße, dort alles so unspaßig und grau war. Aber gleichzeitig war ich fasziniert von den beiden Handpuppen, die so fucking cool und widerborstig waren. Deswegen. Ratz und Rübe: Vom Arbeiten müssen...

26 April 2010

The Beginning End Of Now: Papier Tigre am 24. April 2010 im Schokoladen, Berlin

Nachdem mein Tag negativ und mit verqollenen Augen wegen zweisamkeitiger Gefühlsduseleien begann und ich mich danach ärgernd und mühend mit prekären Tätigkeiten herumschlagen musste, während andere Menschen meines Alters in der Sonne oder auf dem Fußballplatz herumtollten, endete der Tag, wem sei Dank, dann doch in großer Euphorie, denn ich sah die wunderbare Band Papier Tigre im Schokoladen.
Wer die Band noch nicht kennt stelle sich ein gutes Stück experimentellen Wahnsinns aus schräger Gemütslage und frickligen Gitarrenkrach vor. Drei Menschen ausgerüstet mit Gitarren und Schlagzeug, die ständig zwischen rasiermesserscharfen Gitarrenminimalismus und naturgewaltigen Explosionen pendelten. Man könnte es fast Post-Hardcore nennen, wenn dieser Begriff nicht so unpassend wäre, aber potentielle Fans stellen sich jetzt bitte vor: frühe Fugazi, Big Black, Liars und Q And Not U zusammengeschüttelt, mit Komplexität, Leidenschaft und tribalistischen Drums angereichert und mit einem Hang für feine Melodien ausgeteilt.
Das die Band ohne Bass auskommt ist dabei nur eine kleine Anekdote am Rande. Fällt nämlich gar nicht auf, weil beide Gitaristen so geschickt mit- und gegeneinander spielen, dass alle Rockbassisten jetzt Angst um ihre Zukunft haben müssten.

Austesten: http://www.myspace.com/papiertigre

Probieren: http://www.mediafire.com/file/zhmummhdmay/The Beginning And End Of Now.rar

23 März 2010

Michael Hardt: Common Wealth im Streitraum Schaubühne, 21.03.2010



Crisis? What Crisis?, fragt man sich manchmal, wenn man sich die Alltagswelt betrachtet. Trotz globaler Finanz- und Wirtschaftskrise werden kaum ernstzunehmende Alternativen formuliert und die von den Herrschenden lauthals verkündete Beschneidung der Finanzmärkte ist schon nach den ersten Anläufen stecken geblieben. Auch andere Instrumente wie Abwrackprämie und Kurzarbeitergeld, haben nichts mit alternativer Politik zu tun, denn sie dienen nur dem Erhalt überkommender Strukturen. Doch die Ansicht, das nur der Staat die Sache richten kann, ist auch im linken Millieu weit verbreitet und man fordert Investitionsprogramme oder Verstaatlichung. Ein ganz anderes Konzept dagegen wird von den linken Vorzeigeintellektuellen Antonio Negri und Michael Hardt vertreten. Die plädieren in ihrem neuen Buch „Common Wealth“ nämlich für die Selbstorganisation und liefern gleichzeitig den fundiert ökonomischen und soziologischen Unterbau dazu.
In der Reihe Streitraum an der Berliner Schaubühne hatte Michael Hardt die Möglichkeit seine Thesen vorzustellen: Das Gemeineigentum muss gestärkt werden und er meinte damit sind nicht nur materielle Dinge wie Wasser, Luft und Natur, sondern insbesondere Ideen, Wissen und Information. Erst wenn die starre Verbindung von Privateigentum und Information aufgelöst und Wissen und soziale Handlungen frei geteilt werden können, werden sich die Potenziale der immaterialen Güter voll entfalten und zu einer gerechten „Demokratie der Multitude“ entwickeln. Also fordern Hardt/Negri den freien Zugang zu Information und Wissen, und das alle immateriellen Güter grundsätzlich und bedingungslos der Allgemeinheit zu Gute kommen.
Der klassischen Linken wird die Theorie vom „Common Wealth“ und insbesondere die Idee der Selbstermächtigung nicht schmecken, geht man hier doch immer noch von Klassengegensätzen aus. Aber grade im Zusammenhang von „Empire“ und „Multitude“, den beiden anderen viel diskutierten Theoriekonzepten von Negri/Hardt ist „Common Wealth“ nur folgerichtig. Da sich das Empire als Ausdruck der aktuellen Weltordnung in vielfältiger und flexibler Form zeigt und sich immer den Erscheinungen der Multitude, also der Vielfalt der Subjekte anpasst, es also kein Außen und Innen im Empire gibt, muß jede Politik die sich außerhalb des Empires stellt scheitern. Folgerichtig fordern sie statt einer Revolution der Klassen ein solidarisches Netz von Individuen die gemeinsam entscheiden, in welche Richtung sie gehen.
Zwar lehnt Hardt das klassische Konzept des Klassenkampfs ab, dennoch kam ihm das K-Wort mit Leichtigkeit über die Lippen. Da in der öffentliche Debatte der Kommunismus aber als realsozialistisch gescheiterter Staats- und Wirtschaftdirigismus steht, fordert er eine Rückformulierung auf den ursprünglichen Sinn des Wortes: der Zusammenschluss freier Individuen zur gemeinsamen Organisation der Produktion jenseits von Privateigentum. Und genau wie das K-Wort neu definiert werden muss, fordert er das gleiche für die Begriffe Liebe und Demokratie.
Allerdings Tat tut sich Michael Hardt schwer mit der Frage, wie die Multitude, also die „Singularitäten, die gemeinsam handeln“ in ihrer Vielschichtigkeit und Wandlungsfähigkeit ein gemeinsames Konzept finden können, um „Common Wealth“ umzusetzen. Jeder, der sich beim WG-Plenum schon einmal um einen Putzplan gestritten hat, kann das nachvollziehen. Hardts Gesprächspartnerin Carolin Emcke illustriert die Theorielücke mit dem Bild eines homosexuellen jungen Mannes im Gaza-Streifen der von mindestens drei Hegemonialkräften (Gesellschaft, Klasse, Religion) beherrscht wird. Wie kann diese Person durch das Konzept der Selbstermächtigung Befreiung finden? Etwa in dem es sich mit anderen unterdrückten, aber homophoben Palästinensern verbündet?
Der Pathos und die ethische Größe welche im Konzept des „Common Wealth“ steckt, ist immens. Der radikale Bruch mit linker Denktradition, aber noch viel größer.

09 März 2010

Blisstrain: The Antikaroshi, Wive, Don Vito, Stinking Lizaveta in der fabrik, 6.3.2010


Wie jeder hochfrequente Konzertgänger weiß, sind Indoor-Festivals und Konzertouren heutzutage kein Erlebnis mehr. Für den Konzertbesucher bedeutet das nämlich stundenlanges Warten, Rumstehen, Drängeln und vor allem schlechtes Vorprogramm mit teurem Bier zu überbrücken bis dann endlich die Band/Musiker/Künstler spielt, wegen dem man bei 12 Grad minus die warme Couchdecke verlassen hat... und dieser enttäuscht dann natürlich. Also dachte man sich im Hause Exile On Mainstream, machen wir das Beste draus und lassen fünf unterschiedliche Bands im Zug der Glückseligkeit durchs Land touren und für schmales Geld auf zwei Bühnen nonstop spielen. Erste Station war Potsdam. Die Besucherzahl überschaubar...
The Antikaroshi durften beginnen und ich hab deswegen nur deren letzten Song mitgekriegt. Sehr schade, denn ich mag die Band: Drückender Postpunk mit Mathrock- und Disko-Anteilen, derb-sägende Gitarren und funky Bass. Dann ohne Pause zur anderen Bühne, denn es ist ja ein Nonstop-Show. Wive rekrutieren sich aus ex-Personal der A Whisper In the Dark und musikalisch sind sie da auch nah dran: Artrockig-dunkler Kammermusik-Postrock mit Violine und Klavier und etwas Laptop-Geknirpse. Schluß, Ende und Weiter zur anderen Bühne: Don Vito aus Leipzig die kurzfristig für die nachwuchstechnisch verhinderten Bulbul eingewechselt wurden. Großartiger Minimal-Haudrauf-Noiserock, ein bissel Melt Banana nur ohne den hektischen Kreischgesang. Aber eine schöne Hirndusche nach den etwas schläfrig-gejetlagten Wive. Und wieder nonstop weiter zur andere Bühne zu Stinking Lizaveta. Steve Albini ist Fan, aber mir geht deren angejazzter Heavy-Rock dann doch eher ab. Lies weiter dein Gitarren-Magazin. Wieder zurück zur anderen Bühne und oh Schreck: Dyse spielt gar nicht. Da ist mir wohl das Kleingedruckte auf dem Flyer entgangen...
Fazit. Abwechslungsreicher Abend und kaum ne Pause zum Pinkelngehen oder Bierhohlen. Die Bands von Zuhause deutlich besser als die eingeflogene Importware. Und mit Dyse wäre der Abend noch schöner gewesen...

26 Februar 2010

Entgrenzung und Entscheidung: Les Louise Mitchels im Black Fleck, 25.2.2010


Les Louise Mitchels haben sich nach einer französischen Anarchistin benannt, die für ihre aufrührerischen Aktionen ins Irrenhaus gesteckt wurde. Aber das ist längst nicht die einzigste Referenz, auf die man sich bezieht. Auf der Website der Les Louise Mitchels gibt es ein lange Liste von Einflüssen und da stehen neben den üblichen Verdächtigen wie NoMeansNo, Zappa und Kraftwerk, auch Namen von Intellektuellen und Künstlern von Pierre Bourdieu bis zu George Orwell. Die Selbstverständlichkeit mit der sich die Band auf solche Einflüsse bezieht, hebt sich bemerkenswert von der üblichen Intellektuellenfeindlichkeit im DIY-Untergrund ab, auf dessen Boden sich die Band immerhin schon seit ein parr Jahren bewegt. Vielleicht ist das auch der Grund, warum Les Louise Mitchells hierzulande völlig unbekannt sind, sind doch solche Referenzen das Monopol von Spex und Testcard und dessen Schreiber/innen und Leser/innen verirren sich selten in ein Kellerloch wie das Black Fleck oder Koma F. Und auch ich fühl mich hier ein bissel overdressed.
Mit den festgefahrenen Gewohnheiten des DIY-Ghettos bricht die Band aber auch an anderen Stelle: Die Website kommt statt schwarz und düster mit all seinen niedlich-handgemalten Grafiken und Selfmade-Videos quietschebunt daher. Platten teilt man sich mit Folklore-Orchestern, die Aufnahmen verteilt man freigiebig mittels Download und bei den Live-Auftritten gibt es nicht nur zwei Schlagzeuger, sondern auch einen ständigen Instrumentenwechsel. Gleichzeitig ist man sich der kulturellen Werte bewusst und nutzt die eigene Myspace-Seite zur Kritik an Mediengigant Rupert Murdoch.... Ob bewusst oder unbewusst: Hier ist Auflösung von Grenzen das Konzept und man setzt einen Kontrapunkt zu den allzu oft traditionalistischen und rückwärtsgewandten Ideologien des eigenen DIY-Kosmos. Und das wiederum ermöglicht neue Formen in Ausdruck und Sprache, auch um sich in seiner Bestimmung wiederfinden zu können. Olle Kamellen? Dann check out Ulrich Beck und Christoph Laus Buch "Entgrenzung und Entscheidung".

Musikalisch bringen Les Louise Mitchel einen nervös-frickligen Instrumental-/Mathrock aus Minuteman, NoMeansNo, Lightning Bolt und Valina. Unbedingt austesten! Live auf dem Köpi-Geburtstag am 26. Februar 2010...

www.louisemitchels.free.fr
www.myspace.com/louisemitchels

25 Februar 2010

A Taste For Bitters: Chokebore am 24. Februar 2010 im Festsaal Kreuzberg

Die übliche Floskel zur Band Chokebore geht ungefähr so: Wie kann eine Band aus dem sonnigen Hawaii nur so depressiv klingen? Hallo? Wir reden hier vom Land der Sonne, exotischen Drinks und ferrarifahrenden Privatdetektiven...
Kleine Zeitreise zurück in die Mittneunziger: Als Freund anständiger Gitarrenmusik hatte man es da wirklich nicht leicht. Grunge hatte sich grade mit einer Schrottflinte das Lebenslicht ausgeschossen und Techno war der Sound der Stunde. Bis plötzlich Chokebore auftauchten und auf dem Noiserocklabel Amphetamine Reptile eine überragende Platten („A Taste For Bitters“) veröffentlichten. Vom Grunge hatten Sie die Tempowechsel und Stimmungsschwankungen übernommen, vom AmRep-Sound die knarzenden Gitarren und schräge Rhythmik. Dazu Texte über Einsamkeit, Depression und Langweile, vorgetragen von einem Sänger, der obwohl nicht sonderlich gesangsbegabt, dank Stimmmodulation zu enormen Ausdruck fähig war. Und das im Zeitalter before Autotune... Der Chokebore-Sound war von allem etwas: Posthardcore, Noise, Emo, Hardrock und vor allem düster, so dass der Band schnell das Etikett Sadcore angehängt wurde. Irgendwann zur Jahrtausendwende wurde daraus ein straighter Indirock und die Band verabschiedete sich wenig später. Sänger Troy von Balthazar lebte abwechselnd in Paris und in Berlin und machte sich einen Namen als charmant-schelmischer Adam Green des Lo-Fi-Undergrounds und brach mit dieser Masche reihenweise Frauen- und Männerherzen.



Zu meiner großen Freude wurde dann Ende letzten Jahres von der Band eine Reunion angekündigt. Yippie.... Als ich dann hörte, dass sich die Sinnbus-Jungs der Sache annehmen, war ich noch mehr begeistert... Kann nur gut werden.
Das Konzert im Festsaal Kreuzberg war dementsprechend proppevoll und bestand zu guten Teilen aus älteren Herren und Damen, die die Band schon zu Ihrer Hochzeit vor 15 Jahre erlebt hatten. Dazu der übliche Querschnitt aus Szenehipstern und, ich vermute, den erwähnten gebrochenen Frauen- und Männerherzen.
Als Support wurden Hundreds aus Hamburg verpflichtet und die erwiesen sich als glatter Fehlgriff: Glattgebügelter Pianopop mit Tu-Mir-Nicht-Weh-Appeal und ich musste fortwährend an Loreal- und Du Darfst-Werbung denken, wenn es da nicht ein parr knarzende Laptop-Beats gegeben hätte. Die Sängerin, zwar mit großartiger Stimme gesegnet, erinnerte an den Jazzgesangkurs der Musikschule und fabulierte romantischen Kitsch von zwitschernden Vögeln und Sonnenuntergängen. Wieviel Geld hat Nino Skrotzki als Mitgift hingelegt, um Hundreds mit Sinnbus zu verkuppeln?
Mit dieser Frage im Kopf drängelte ich mich zur Umbaupause in die erste Reihe, um bei Chokebore ganz vorn zu sein. Um mich herum Menschen im Alter 35+. Tut auch mal gut... Und was soll ich sagen: Chokebore spielten ein fantastisches Konzert!! Der Lärm-Pegel erinnerte an selige Amrep-Zeiten und es wurden die dunkel-melancholischen Klassiker genauso gespielt wie losrockende Werke aus der Spätphase der Band. Chokebore wurde ja immer mit diesem Emo-Etikett versehen, aber bei dieser Band ist viel mehr drin. Das Konzert enthielt natürlich deutliche Elemente von Frühneunziger Emo: Sänger Troy lebt die Songs kathartisch aus und seine jodelhafte Stimmmodulation betont insbesondere die Midtempo-Songs besonders. Dazu die beiden Brüder zu seiner Rechten und Linken, die wie schlaksig-hünenhaft Gestalten wirken und ihre Instrumente mit den typisch gebeugten Rücken von Emo-Gitarristen spielen. Aber dennoch sind Chokebore keine Emoband und deren Songs klingen nicht nach Selbstmitleid und Verzweiflung, sondern sind lautstark, kraftvoll und energetisch. Das ist die wahre Kunst dieser Band: Spannung erzeugen durch Brüche aus atmosphärischer Dichte und einem hohen Energielevel und dieses Ergebnis widerrum ironisch brechen mittels charmanten Smalltalk mit dem Publikum und Witzeleien über den depressiven Grundton der Songs.

http://www.myspace.com/chokebore

22 Februar 2010

Baustellenparty mit La Stampa + Driver & Driver, 20.Februar 2010, Praterfoyer:



Wann endlich untersuchen ein parr schlaue Köpfe mal, warum es dem Staatsakt-Label immer wieder gelingt, mit seinen Neuveröffentlichungen einen mittelprächtigen medialen Hype zu generieren. Liegt das vielleicht am Referenzrahmen aus Bar 25-Szene-Bohei, Popkultur und ein wenig Sozialkritik, in dem sich Staatsakt tummelt? Möglich. Andere berliner Labels haben da andere Strategien und behaupten ihr öffentliches Standing dank Großmäuligkeit (Louisville) oder Netzwerkeln (Sinnbus). Gelegentlich werden bei Staatsakt ganz gute Platten veröffentlicht werden, auch wenn sich das Label hier und da an Generationsmissverständnissen verhebt (siehe die hormongesteuerten Chuckamuck). Die Artpop-Band La Stampa mitsamt ihrer alternden Szenegesichtern passt da hypetechnisch natürlich wie Arsch auf Eimer und wurde im Vorfeld schon allerortens abgefeiert und runtergenudelt (okay und sein wir ehrlich: Jörg Heisers ex-band Svevo hat Mitte der Neunziger wohl höchstens 300 Platten verkauft...) Nur einer war von dem Hype um die Band unberührt: Das Ordnungsamt Pankow teilte den Veranstaltern des Ballhaus Ost mitten im Soundcheck mit, das mit sofortiger Wirkung alle Veranstaltungen nach 22 Uhr untersagt sind. Das ist für eine medial breit angekündigte Recordreleaseparty eine Hypeband natürlich der Tod. Doch glücklicherweise existiert eine perfekte Szenevernetzung und Co-Veranstalter Ran Huber benötigte genau zwei Telefonanrufe, um als neuen Spielort das Praterfoyer in der Kastanienallee auszudealen. Distinktionstechnisch eine gute Entscheidung, treffen hier doch angesagte Hochkultur (Polesch, Hegemann) auf Touristenkultur (Kastanienallee, Kulturbrauerei) zusammen, und so wurde der Schwäbisierung des Prenzlauer Bergs mal wieder ein subversives Schnippchen geschlagen.
Doch mit dem spontanen Spielortwechsel begannen die Probleme: Das Praterfoyer versprühte rüden Baustellencharme, die Bühne glich der Komfortabilität eines Wohnwagens und die Lichtstimmung erinnerte an einen Bahnhofwartessaal in den Achtziger des letzten Jahrtausends. Dazu ein blecherner, katastrophaler Sound und so bekam der Abend schnell den Gestus einer improvisierten Probegroßraumparty mit gutangezogenen Szenepeople. Dieses Setting hatte die Band La Stampa nun wirklich nicht verdient, denn auf Platte klingt ihr schräger Artwavepop sehr frisch und attraktiv, im Baustellenambiente des Praterfoyers erinnerten sie jedoch stark an eine fahrig-unbedarfte Kunstschul-Coverband welche die Hits von Devo, Magazine und Josef K möglichst stilecht interpretieren wollte. Die feinen, glitzernden Unterschiede im Sound, die man auf ihrer Debüt-Platte „Pictures Never Stop“ vernimmt, die Wiederaneignung des New Wave unter dem Vorzeichen der 2010er Jahre und die lässige Verspieltheit samt ironisch-melancholischer Auswüchse kamen heute völlig abhanden. Die Band war sichtlich froh, als sie nach der Zugabe (peinlich, weil völlig ironiefrei: „All tThe Things She Said“) die improvisierte Bühne verlassen durften. Der Co-Veranstalter verabreichte zum Trost Wodka aus Plastikbechern und man hätte der Band noch viele Auftritte in kleinem Rahmen gewünscht, bevor sie ihre Karriere auf so unnachahmliche Weise versauen.


Driver&Driver - Umtausch Sofort!

Driver&Driver | MySpace Musikvideos

Aber wie sich herausstellte, war dass, was als Höhepunkt des Abends angekündigt war, nur der Beginn, denn nach La Stampa kamen noch Driver Driver. Das Duo (Patrick Catani und Chris Irmler) fügten sich in den rüden Baustellencharme des Praterfoyers prächtig ein (inzwischen hatte auch jemand die Stecker der Wartesaalbeleuchtung gezogen) und drückten vom ersten Ton aufs Gaspedal. Der prollige Dada-Deichkind-Elektropunk passte so wunderbar zur absurd-kaputt-peinlichen Atmosphäre des Abends, dass das Publikum sofort anfing zu kreischen. Jetzt konnten endlich Hemmungen fallen gelassen und zu Kirmestechno, Garagepunkschlagzeug, Elektrokrach und Dada-Texten wild mitgewippt werden. Chris Irmler trug ein schwarz-rot-goldnes Truckercap nebst Baumwollhemd und hatte zur Erinnerung die Texte auf Plastiktüten geschrieben und diese über sein Schlagzeug gehängt. Sänger Patrick Catani verschenkte Mon-Cheris an die Damen in der ersten Reihe und füllte die im zugewiesener Rolle als schräg-kaputter Freak mit Freude aus. Und so wurde dank Driver Driver aus dem Abend doch noch eine Feier mit knietiefer Ironie und Fuck-You-Attitüde und dieser ganzen Referenzballast aus Pop- und Kulturkritik wurde dankenswerter Weise über Bord geworfen. Das wäre unter den Vorrausetzungen des Ballhauses Ost wohl nicht passiert....

http://www.myspace.com/driveyouhome

http://www.myspace.com/lastampaberlin